Profilbildung 2020 | Individualisation in Changing Environments (InChangE) – Disziplinübergreifende Erforschung von individuellen Unterschieden

Das Verbundprojekt „Individualisierung in sich ändernden Umwelten“ (InChangE) wurde von November 2021 bis April 2025 vom Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen (MKW NRW) gefördert. Was haben die Beteiligten erforscht?

Barbara Caspers: Im Wesentlichen beschäftigte sich InChangE mit drei Kernthemen: Die Ursachen von Individualisierung – also wie individuelle Unterschiede entstehen –, die Modellierung und Vorhersage solcher Prozesse und die Konsequenzen solcher Unterschiede für Individuen, Gruppen und Gesellschaften, die daraus resultieren.

Was zeichnet den Ansatz des Forschungsverbunds InChangE aus?

Jürgen Gadau: Das einmalige dieses Projektes war/ist, dass wir so viele Beteiligte und Forschungsprojekte aus Disziplinen zusammengebracht haben, die sonst eher wenig miteinander reden oder wissenschaftlich zusammenarbeiten. Es waren Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften vertreten und die Forschung widmete sich sowohl Menschen als auch Tieren. Dabei haben wir immer wieder die Rückkopplung vor allem zwischen den Natur- und Geisteswissenschaften gesucht. Was hat es für Auswirkungen auf das Gesamtbild von Individualität, wenn wir bestimmte Aspekte an der Maus, an der Ameise oder am Menschen untersuchen?

Barbara Caspers: Darüber hinaus war die enge Zusammenarbeit zwischen den beiden beteiligten Universitäten Bielefeld und Münster sehr prägend. Das spiegelte sich beispielsweise darin wider, dass Postdocs in Brückenprojekten disziplin- und standortübergreifend jeweils zwei Arbeitsgruppen zugeordnet waren und durch ihre praktischen Arbeiten eine sehr enge Verbindung zwischen den beiden Universitäten geschaffen haben.

Welche Forschungsfragen wurden beispielsweise konkret bearbeitet?

Jürgen Gadau: Ein Brückenprojekt mit Beteiligten aus der Biologie und der Medizin erforscht zum Beispiel, wie unsere Gene, unser Immunsystem mit unserer erlebten Umwelt miteinander interagieren und dadurch unser Verhalten beeinflussen. Es zielt darauf ab, anhand bioinformatischer Modellierungen von Daten aus Human- und Tierstudien individuelle Vorhersagen über Gesundheitsrisiken zu ermöglichen. Durch diese Forschung sollen zukünftig Therapien entwickelt werden, die direkt auf die Bedürfnisse und Besonderheiten einzelner Individuen zugeschnitten sind.

Barbara Caspers: In einem anderen Brückenprojekt untersuchen Beteiligte aus der Geoinformatik und der Psychologie, wie unterschiedlich Individuen Räume wahrnehmen und welche Auswirkungen der Urbanisierungsgrad oder die Komplexität der Umgebung darauf hat.

Welche Erfahrungen haben Sie in der interdisziplinären Zusammenarbeit gemacht?

Barbara Caspers: Es war enorm wichtig, zu Beginn die Begrifflichkeiten zu klären. Dazu haben wir zunächst gemeinsame Workshops organisiert. Man geht anfangs davon aus, dass für alle anderen ganz klar ist, was ein bestimmter Begriff mit einer eigenen klaren Definition meint. Dann zu sehen, dass es in den beteiligten Disziplinen mindestens drei grundlegend verschiedene Auslegungen von Individualisierung gibt, war sehr beeindruckend. Wenn man sich das vorher nicht klarmacht, redet man unter Umständen über völlig verschiedene Dinge.

Jürgen Gadau: Dabei war ein sehr wichtiger Aspekt, dass wir Philosophinnen eingebunden haben. Das hat dazu beigetragen, uns eine gemeinsame Sprache und Werkzeug an die Hand zu geben, wie man erfolgreich interdisziplinär miteinander sprechen und arbeiten kann. Andererseits war es aus meiner Sicht überraschend, dass sehr unterschiedliche Fachrichtungen auf experimenteller Ebene oft ähnliche Ansätze verwenden. Gleichzeitig gibt es aber auch fundamentale Unterschiede, wie in den einzelnen Disziplinen geforscht wird: Von qualitativen Auswertungen in der Soziologie über quantitative, statistische Analysen in den Naturwissenschaften bis zu theoretischen, mathematischen Modellen in den Wirtschaftswissenschaften.

Wie hat sich die hochschulübergreifende Zusammenarbeit gestaltet?

Barbara Caspers: Wir haben regelmäßig gemeinsame Treffen organisiert, die für die Zusammenarbeit sehr wichtig waren. Dafür haben wir neutrale Orte abseits der Universitäten gewählt, die wir gemeinsam gestalten konnten – zum Beispiel in einer kleinen Gemeinde namens Beelen, die fast genau auf der Hälfte der Zugstrecke zwischen Bielefeld und Münster liegt. Es ist aus meiner Sicht sehr bereichernd, dass nicht die einen ein „Heimspiel“ haben und die anderen Gäste sind, sondern alle gleichberechtigt zusammenarbeiten.

Jürgen Gadau: Wir haben zudem gemeinsame Veranstaltungen ins Leben gerufen, um die Kooperationen auch über den Forschungsverbund hinaus zu stärken, zum Beispiel Summer Schools für Promovierende und Postdocs oder das Individualisation Symposium, das seitdem einmal jährlich stattfindet und stetig wächst. Die erfolgreiche Zusammenarbeit hat außerdem zu vielen standortübergreifenden Publikationen und Projekten geführt.

Zu welchen zentralen Erkenntnissen sind Sie gekommen?

Barbara Caspers: Die Umwelt ist der entscheidende Faktor für Individualisierung. Dabei handelt es sich um einen kontinuierlichen Prozess, der durch die Interaktion zwischen Individuen und ihrer Umwelt geprägt ist: Umweltveränderungen beeinflussen das Individuum und Individuen manipulieren umgekehrt ihre Umwelt, die wiederum das Individuum verändern, und so weiter. Eine sich ändernde Umwelt führt dazu, dass Individuen darauf reagieren müssen. Das funktioniert, indem sie sich im Verlauf ihres Lebens daran anpassen, in eine neue Umwelt wechseln oder ihre Umwelt verändern. Dieses Konzept stammt ursprünglich aus einem Forschungsverbund mit biologischer Ausrichtung, der seit vielen Jahren zwischen beiden Hochschulen besteht. InChangE hat uns gezeigt, dass diese Prozesse in anderen Disziplinen ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, und uns die die Möglichkeit gegeben, das Konzept auf weitere Bereiche auszuweiten, zum Beispiel die Psychologie oder die Wirtschaftswissenschaften.

Jürgen Gadau: Die eine Seite ist, dass die gleiche Umwelt zu unterschiedlichen individuellen Veränderungen führt, da jedes Individuum unterschiedlich darauf reagiert. Umgekehrt haben wir auch erforscht, wie wir die Umwelt in bestimmten Bereichen gestalten müssen, um Individuen mit unterschiedlichen Eigenschaften gerecht zu werden. Da es diese individuellen Unterschiede gibt, passt eine Einstellung, in der „one-size-fits-all“ angenommen wird, in den meisten Fällen nicht. Das betrifft so unterschiedliche Bereiche wie den Tierschutz oder die Arbeitszeitplanung in einem Unternehmen. In einem Brückenprojekt zwischen der Biologie und den Wirtschaftswissenschaften haben wir zum Beispiel untersucht, wie sich die Einteilung von Arbeitszeiten optimieren lässt, um die individuell sehr unterschiedlichen Bedürfnisse der Mitarbeitenden möglichst gut berücksichtigen zu können.

Wie haben Ihre Hochschulen von der Förderung des MKW profitiert und was davon bleibt nach der Projektlaufzeit?

Jürgen Gadau: Die Förderung durch das MKW hat unsere Hochschulen ganz unmittelbar in ihrer strategischen Profilbildung unterstützt. Während der Laufzeit von InChangE haben beide Universitäten Individualisierung als neue Forschungsschwerpunkte etabliert. Dabei setzen wir gezielt auf die enge Zusammenarbeit zwischen den Standorten. Diese strukturbildenden Anstöße werden auch nach dem Ende des Verbundprojekts weiterverfolgt.

Barbara Caspers: Dazu haben wir mit dem „Joint Institute for Individualisaton in a Changing Environment“ (JICE) eine gemeinsame Einrichtung gegründet, um unsere Strukturen auf diesem Forschungsgebiet zu verstetigen. Das JICE wird von beiden Universitäten finanziell unterstützt und hat sich in den letzten drei Jahren immer weiter etabliert. Es beherbergt mittlerweile weitere Forschende und Verbundprojekte und hat eine zentrale Rolle bei der gemeinsamen Exzellenzcluster-Initiative „The Science of Individualisation“ (SOFI) der beiden Universitäten gespielt. Dies ist auch der Finanzierung durch das MKW zu verdanken.

Kontakt zum Projekt

Dr. Antje Herde
Koordinatorin
Universität Bielefeld
antje.herde@uni-bielefeld.de